Das Leben in einer dreidimensionalen Welt verlangt es, räumliche Gegebenheiten wahrzunehmen, diese in der Vorstellung zu „sehen", sie mental zu bewegen und umzusortieren. Diese Fähigkeiten können allerdings nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Vielmehr durchlaufen sie insbesondere im Grundschulalter einen Entwicklungsprozess, der durch geeignete Lernanlässe angeregt und gefördert werden muss.

Auf dieser Seite wird exemplarisch gezeigt, wie das Raumvorstellungsvermögen mit Hilfe des Aufgabenformats "Würfelnetze" in der Grundschule gefördert werden kann.

Kinder suchen Quadratsechslinge

In einem dritten Schuljahr wurde eine Unterrichtseinheit zum Thema "Würfelnetze" durchgeführt (vgl. Gatzka & Jungblut 2010). Als Einstieg in das Thema bekamen die Kinder den Forscherauftrag, möglichst viele Quadratsechslinge zu finden, die sich zu einem Würfel zusammenfalten lassen. Die offene Aufgabe ermöglichte den Schülerinnen und Schülern eine Bearbeitung entsprechend ihres individuellen Niveaus, sodass ganz unterschiedliche Ergebnisse entstanden sind:

Schülerlösung von Anouar: 3 ausgeschnittene Formen: 5 Quadrate senkrecht untereinander, mittig ein Quadrat an der linken Seite. Ein einzelnes Quadrat. 5 Quadrate in T-förmiger Anordnung.Schülerlösung von Kürsat: 3 ausgeschnittene Formen:  6 Quadrate in kreuzförmiger Anordnung. 5 Quadrate in Form des Pluszeichens. 5 Quadrate senkrecht untereinander, ganz oben ein Quadrat an der linken Seite, ein Quadrat mittig an der rechten Seite.Schülerlösung von Serhat: 6 ausgeschnittene Formen: 6 Quadrate in T-Form. 6 Quadrate in Kreuzform. 4 Quadrate senkrecht untereinander, ganz oben ein Quadrat links und ganz unten ein Quadrat rechts. Usw.

Eigenaktivität

1. Haben die Kinder einige oder auch alle Würfelnetze gefunden?

2. Wo sehen Sie Fehler? Wie würden Sie damit im Unterricht umgehen?

3. Welche Impulse zur Weiterarbeit geben Sie diesen Kindern?

Hintergrundwissen zu Raumvorstellung und Würfelnetzen

Raumvorstellung 

Menschen können die räumliche Umwelt wahrnehmen und sich in dieser orientieren. Sie sind befähigt, einen Ball zu fangen, Wege in der Vorstellung zu beschreiben sowie Gegenstände platzsparend in einen Schrank einzusortieren.

Diese Fähigkeiten werden alle durch räumliche Fähigkeiten bedingt, die sich nach Franke (2006) aus den Bereichen visuelle Wahrnehmung, räumliches Vorstellungsvermögen und räumliches Denken zusammensetzen. Die visuelle Wahrnehmung wird als das konkrete Operieren mit vorhandenen Objekten im dreidimensionalen Raum definiert (vgl. Franke 2006, S. 52).

Wesentlich für die Entwicklung visueller Fähigkeiten sind demnach Handlungserfahrungen am Material. So können an Arbeitsmitteln Vorstellungen konkret entwickelt werden, indem Lernende die geometrischen Objekte im wahrsten Sinne „begreifen".

Dabei entstehen aus den sinnlich registrierten Reizen Vorstellungsbilder, die mental abgespeichert, verändert und zueinander in Beziehung gesetzt werden können.

Die visuelle Wahrnehmung stellt die notwendige Voraussetzung für die Raumvorstellung dar, da Raumvorstellungsvermögen als "die Fähigkeit mental mit geometrischen Objekten zu operieren" definiert wird. Operationen wie Transformationen von Objekten/Objektteilen oder räumliche Bewegungen wie Drehungen, Verschiebungen und Faltungen erfolgen rein in der Vorstellung.

Empirisch belegt ist, dass sich das Raumvorstellungsvermögen im Alter von sieben bis dreizehn Jahren besonders stark entwickelt (vgl. Radatz & Rickmeyer 1991, S. 145).

Folglich kommt der Behandlung geometrischer Inhalte zur Förderung der räumlichen Fähigkeiten insbesondere in der Grundschule eine wesentliche Bedeutung zu (vgl. MSW NRW 2008, S. 58).

So kann das Raumvorstellungsvermögen der Kinder durch geeignete geometrische Inhalte im Mathematikunterricht gefördert werden. Ausgehend von konkreten Operationen am Material können so mit der Zeit in einem kontinuierlichen Verinnerlichungsprozess mentale Vorstellungsbilder entstehen, mit denen die Kinder mental flexibel operieren können.

Eine Möglichkeit, das Raumvorstellungsvermögen der Schüler zu fördern, stellt die unterrichtliche Behandlung von Würfelnetzen dar, anhand derer die Schüler charakteristische Eigenschaften von Würfelnetzen entdecken, die Beziehungen von Ebene und Raum verdeutlichen und ihr Raumvorstellungsvermögen schulen können.

Dies wird im Folgenden exemplarisch an einer Aufgabe zum Thema "Würfelnetze" aus einer Lernumgebung von Gatzka & Jungblut (2010) veranschaulicht.

Würfelnetze

Mathematisch gehören Würfelnetze zu den Hexominos, da sie aus sechs zusammenhängenden Quadratflächen bestehen. Sind diese Flächen so angeordnet, dass sie sich zu einem Würfel zusammenfalten lassen, werden sie als Würfelnetze bezeichnet. Würfelnetze können hergestellt werden, indem die sechs Flächen zu einem Netz zusammengesetzt, der Körper abgewickelt oder an den Kanten aufgeschnitten wird (vgl. Radatz & Schipper 1991, S. 162).

In der unten dargestellten linken Abbildung handelt es sich um ein solches Würfelnetz, da man dieses Körpernetz zu einem Würfel zusammenfalten kann, wie die weiteren Abbildungen zeigen.

Abbildung von dem Vorgang, aus einem kreuzförmigen Würfelnetz einen Würfel zu falten. Dabei wurden 4 Schritte abgebildet. Das obere Quadrat des Würfelnetzes ist blau.
(Huhmann 2006)

Eigenaktivität

Es gibt noch weitere Würfelnetze.
Versuchen Sie zunächst selbst, alle weiteren möglichen Würfelnetze zu finden.

Hier finden Sie alle möglichen Würfelnetze.

Wie viele echte Würfelnetze kannst du finden?

Nachdem die Kinder selbstständig Würfelnetze entdeckt haben, wurde ihnen folgende „Anna-Aufgabe" gestellt:

Aufgabenausschnitt: „Anna hat verschiedene Würfelnetze gefunden. 1. Sind alle Würfelnetze, die sie gefunden hat, richtig? Wie viele echte Würfelnetze kannst du finden? Streiche falsche Würfelnetze durch.“ Darunter 15 verschiedene Quadratsechslinge.

Die Kinder sollen zunächst überprüfen, ob es sich bei allen gefundenen Netzformen um richtige Würfelnetze handelt und mit M (für „mit Material gelöst") und mit K (für „im Kopf gelöst") kennzeichnen, wie sie die einzelnen Netzformen überprüft haben.

Die Aufgabe ermöglicht eine niveaudifferenzierte Bearbeitung, die einen Wechsel der Vorgehensweisen von Netz zu Netz zulässt.

  • So können sich die Schülerinnen und Schüler zum einen ihres visuellen Gedächtnisses bedienen, indem sie sich an einige der Würfelnetze aus den vorangegangenen Stunden erinnern.
  • Zum anderen können sie die Netzformen mithilfe des Materials überprüfen. Das Material hat die Funktion, den Wechsel zwischen Ebene und Raum zu verdeutlichen. Die Schüler nutzen es, um Netzformen auszuprobieren oder um Ideen zu überprüfen.
  • Des Weiteren kann die Identifizierung der richtigen und falschen Netzformen mental erfolgen. In diesem Fall falten die Kinder die Netzformen gedanklich zusammen und vollziehen somit räumliche Bewegungen von der Ebene zum Raum in der Vorstellung.

Eigenaktivität

Betrachten Sie die ausgewählten Schülerdokumente (für eine größere Ansicht klicken Sie auf das jeweilige Kinderdokument).

  • Was fällt Ihnen auf?
  • Welche Würfelnetze überprüfen die Kinder eher im Kopf? Welche eher mit Material? Woran kann das liegen?

 


Serhat


Kay


Drita


Athiksha

 Hier finden Sie eine Zusammenfassung einiger Auffälligkeiten.

Eigenaktivität

Der ergänzende Arbeitsauftrag „Erkläre Anna, warum die anderen Netze keine echten Würfelnetze sind" diente vordergründig dazu, auch die prozessbezogenen Kompetenzen anzusprechen.

Des Weiteren ermöglicht die Aufgabe einen Einblick, inwiefern die Kinder bereits Kriterien oder Regeln ausgebildet haben, die ihnen die Identifizierung der Netze erleichtern. So ermöglichen ausgebildete Fähigkeiten der visuellen Wahrnehmung das Erkennen von Ähnlichkeiten und Unterschieden der Netzformen und somit das Ausmachen störender Netzflächen sowie das Vornehmen von Korrekturen.

Bevor Sie sich die Erklärungen der Kinder anschauen, versuchen Sie zunächst die folgenden beiden Fragen zu beantworten:

Wie würden Sie „Anna" erklären, dass einige ihrer gefundenen Lösungen keine echten Würfelnetze sind?

Was würden Sie von Drittklässlern als schriftliche Erklärung erwarten?

Betrachten Sie anschließend die folgenden Kinderlösungen, vergleichen Sie diese und stellen Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus. Versuchen Sie auch, unterschiedliche Niveaus in den Begründungen der Kinder zu finden.

Aufgabe: „erkläre Anna, warum die anderen Netze keine echten Würfelnetze sind.“ Schülerlösung von Aylin: „Weil man die Netze nicht zu einem Würfel machen kann“.
Aylin

Aufgabe: „erkläre Anna, warum die anderen Netze keine echten Würfelnetze sind.“ Schülerlösung von Beyza: „Bei diesem Würfelnetz (Skizze von geradem Quadratsechsling) 2 bleiben frei und 2 sind doppelt. (Skizze von 3 mal 2 Quadratsechsling) Man kann sie nicht zu klappen. Bei dem hier (Skizze von C-förmigem Quadratsechsling) eins ist doppelt und eins ist frei. (Skizze von treppenförmigen Quadratsechsling) die Mitte kann man nicht zu klappen.“ (Rechtschreibung angepasst)
Beyza

Aufgabe: „erkläre Anna, warum die anderen Netze keine echten Würfelnetze sind.“ Schülerlösung von Blinera: „das lange war zu lang weil alles aneinander gesteckt ist, wegen links und rechts sollte noch ein Viereck sein. Rechts sollte noch ein Viereck sein. Den Schloss da braucht man noch einen unten.“ (Rechtschreibung angepasst)
Blinera

Aufgabe: „erkläre Anna, warum die anderen Netze keine echten Würfelnetze sind.“ Schülerlösung von Denis: „Manche Würfelnetze gehen nicht, weil du machst manchmal auf einer Seite zwei Stücke, weil wenn man die nicht auf der Seite macht und wenn das gerade ist sind die Seiten leer.“ (Rechtschreibung angepasst)
Denis

Aufgabe: „erkläre Anna, warum die anderen Netze keine echten Würfelnetze sind.“ Schülerlösung von Maxi: „Man kann viele Netze nicht zu einem Würfel machen, weil die Formen oft zu einer anderen Form machen.“
Maxi

Aufgabe: „erkläre Anna, warum die anderen Netze keine echten Würfelnetze sind.“ Schülerlösung von Maik: „Das was gerade ist musst du zwei von oben wegnehmen. Danach die zwei nach dem dritten Kästchen hin tun. Bei dem sechser Pack musst du 3 wegnehmen, danach wie ein T formen. Bei diesen einen zwei von ganz links wegnehmen und formen wie ein T. Und beim letzten zwei weg machen und wie ein Z machen.“ (Rechtschreibung angepasst)
Maik

 

 

Hier finden Sie eine mögliche Einordnung der Kinderlösungen.

Die Auswahl an Schülerdokumenten verdeutlicht, wie stark die Schülerlösungen inhaltlich variieren können. Diese Unterschiede lassen sich sowohl auf sprachliche als auch auf bereits entwickelte räumliche Fähigkeiten zurückführen. Eine kompetenzorientierte, kriteriengeleitete Form der Begutachtung erscheint demnach als unabdingbar.

Weiterführende Aufgabe

Ihnen ist bei der Betrachtung der Schülerlösungen sicherlich aufgefallen, dass sich den Schülerdokumenten sowohl quantitativ als auch qualitativ sehr unterschiedliche Informationen entnehmen lassen.
Betrachten Sie folgendes Dokument von Merve kompetenzorientiert.

  • Verstehen Sie, wie Merve denkt. Welche Kompetenzen sehen Sie bei ihr?
  • Sicherlich hat Merve noch große sprachliche Schwierigkeiten, ihre Gedankengänge entsprechend auszudrücken. Wie könnten Sie in einem mündlichen Gespräch mit Merve (beispielsweise im Rahmen einer Kindersprechstunde) herausfinden, ob Merve noch weitere Kompetenzen zeigt?

Aufgabe: „erkläre Anna, warum die anderen Netze keine echten Würfelnetze sind.“ Schülerlösung von Merve: „erstmal ist das Material falsch, weil die Grante ist dann kann man nicht Würfel machen. Weil die das Grante. Wenn ich das zu klamde dann nemden ist Lüge ist.“

(Merve bezieht sich auf das falsche Würfelnetz, bei dem sich sechs Quadrate in einer Reihe befinden. Sie schreibt: "Ersten mall ist das Material falsch weil die Grante ist dan ka man nischt wuvel machen. weil die das Grante. Wen ich das zu klamde dan nemden ist Lüge ist.")

Hier finden Sie eine mögliche kompetenzorientierte Betrachtung.

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Tangram

Ausführliche Informationen zur Entwicklung und Bedeutung des Raumvorstellungsvermögens finden Sie beispielsweise in:

Franke, M. (2006). Didaktik der Geometrie in der Grundschule (2. Aufl.). Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.
Maier, P.H. (1999). Räumliches Vorstellungsvermögen. Ein theoretischer Abriß des Phänomens räumliches Vorstellungsvermögen. Donauwörth: Auer.

Auf der Website unseres Partnerprojekts PIK AS finden Sie im PIKAS: Unterrichtsmodul: Raum und Form: 'Würfelnetze' neben weiteren Informationen auch Unterrichtsmaterial  zum Thema 'Würfelnetze'. 
Weitere Anregungen zum Thema 'Lernstände wahrnehmen' bietet das Fortbildungsmodul des Projekts (PIKAS: Fortbildungsmodul: Lernstände wahrnehmen).

Material

Arbeitsblatt "Anna-Aufgabe"

Literatur