Schriftliche oder auch mündliche Standortbestimmungen zu Beginn der ersten Klasse geben der Lehrperson einen Überblick über das schon vorherrschende Spektrum an Rechenfähigkeiten der Schulanfänger.

Allerdings birgt es auch die Gefahr einer "Kompetenz-Euphorie" von Seiten der Lehrperson. Tatsächlich sind die Vorkenntnisse der Kinder aber sehr heterogen, wie Sie im Folgenden sehen werden.

Wie viele Würfel sind unter der Schachtel?

Annika und die Interviewerin sitzen an einem Tisch. Auf dem Tisch liegen einige Holzwürfel und eine umgedrehte Schachtel. Die Interviewerin legt Annika einige Holzwürfel hin. Annika zählt diese ab und stellt fest, dass es 16 Würfel sind. Es ergibt sich folgendes Gespräch:

I: Also 16 hast du abgezählt?
A: (zustimmendes Nicken)
I: Tun wir jetzt unter die Schachtel wieder, die verschwinden. Wie viele sind das? (legt sechs Würfel hin)
A: Das sind 1, 2, 3, 4, 5, 6.
I: Mhm.
A: 6 sind das.
I: (legt die sechs Würfel ebenfalls unter die Schachtel) Und zusammen dann?
A: Hups. ... 16 (ruft sich den 1. Summanden wieder ins Gedächtnis), ... 17, 18, 19, 20, 30, 31.
I: 31?

Eigenaktivität

Welche Kompetenzen sehen Sie bei Annika?

Hintergrundwissen zu den informellen Rechenfähigkeiten von Schulanfängern

Aus den Internetauftritten Zählvorkenntnisse und Fordern und Fördern am Beispiel Nim-Spiel wissen Sie bereits, dass Schulanfänger keine Lernanfänger sind und im Durchschnitt über erstaunliche Vorkenntnisse zu Zahlen verfügen. Das trifft z.T. auch für das Rechnen zu.

Will man etwas über die Rechenkompetenzen der Schulanfänger erfahren, muss man sich tunlichst über den Unterschied von formellen und informellen Kompetenzen bewusst sein. Ein hoher Teil der Schülerinnen und Schüler verfügt über z.T. erstaunliche informelle aber nur eher rudimentäre formelle Kompetenzen.

Das zeigt sich darin, dass nahezu strukturgleiche Aufgaben ganz unterschiedlich gelöst werden, wenn sie sich hinsichtlich ihrer Umsetzungsmöglichkeiten in Handlungen unterscheiden (vgl. Schipper 1996, S. 12).

Die informelle Aufgabe "Maria hat 5 Murmeln. Hans hat 8 Murmeln. Wie viele Murmeln muss Maria noch bekommen, damit sie genau so viele hat wie Hans?" wird in einer Untersuchung von Stern (1994) von 96% der beteiligten Kinder richtig gelöst, während die formelle Aufgabe "Maria hat 5 Murmeln.

Hans hat 8 Murmeln. Wie viele Murmeln hat Hans mehr als Maria?" dagegen von nur 28% der gleichen Kinder bewältigt wird (vgl. Schipper 1996, S. 12).

Das liegt daran, dass in der ersten Aufgabe neben einem Situationskontext auch noch ein Hinweis auf eine konkrete Handlung gegeben wird ("bekommen" im Sinne von "dazugeben"), während bei der zweiten Aufgabe der Hinweis auf eine Handlung fehlt (statischer Vergleich von Mengen).

Dieser Unterschied zwischen informellen und formellen Aufgaben erklärt, warum die rechnerischen Fähigkeiten von Schulanfängern seitens der Lehrkräfte meist fehlgedeutet werden.

Sind Kinder in der Lage, informelle Rechengeschichten mit konkreten Handlungsanweisungen zu lösen, so heißt das noch lange nicht, dass Kinder auch in der Lage sind, die entsprechenden formellen Aufgaben zu bewältigen. Davon sind Schulanfänger in der Regel noch weit entfernt.

Der Anfangsunterricht ist also ein weiterführender, kein beginnender Unterricht. Er knüpft an die Vorerfahrungen der Kinder an, verharrt aber nicht auf der Ebene der informellen Strategie (vgl. Schipper 1996, S. 14).

Schachtelaufgaben zur Feststellung informeller Fähigkeiten

Um die informellen Fähigkeiten von Schulanfängern festzustellen, bieten sich sogenannte "Schachtelaufgaben" (vgl. Hughes 1986, Spiegel 1992) an. Bei der Grundaufgabe wird dem Kind eine bestimmte Anzahl an Würfeln gezeigt (z.B. 5), und es wird gefragt, wie viele das sind. Dann werden die Klötze unter einem deckellosen, umgedrehten Schuhkarton verborgen (vgl. Bild unten), bei dem man eine der beiden langen Seitenwände entfernt hat, um die Würfel unter die Schachtel zu schieben ohne diese anheben zu müssen.

Mit einer weiteren Anzahl von Klötzen (z.B. 3) wird das Ganze wiederholt. Dann wird das Kind gefragt, wie viele Klötze sich jetzt insgesamt unter der Schachtel verbergen (vgl. Selter & Spiegel 1997, S. 21).

Diese Art der Aufgaben ist informell, da die Kinder die konkrete Handlung mit den Objekten direkt sehen: Es werden Würfel dazugelegt (bei Aufgaben zur Addition) oder Würfel weggenommen (bei Aufgaben zur Subtraktion). Das Verdecken unter der Schachtel hat den Vorteil, dass die Kinder die Anzahl der Würfel nicht mehr direkt abzählen können.

Foto einer Schachtel, die an einer Seite offen ist. Darunter liegen rote Steckwürfel.

Eigene Erkundung der Schachtelaufgaben

Bevor Sie sich die Vorgehensweisen der Kinder anschauen, erkunden Sie unterschiedliche Aufgabentypen der Schachtelaufgaben. Es gibt insgesamt sechs verschiedene Grundtypen, je nachdem nach welcher Variable aus a + b = c und a - b = c gefragt wird (das Fragezeichen gibt die gesuchte Variable an):

a + b = ? a + ? = c ? + b = c
a - b = ? a - ? = c ? - b = c

Eigenaktivität

Drei dieser Typen eignen sich sehr gut zur Feststellung von Rechenfähigkeiten von Schulanfängern, drei eignen sich weniger gut.

  • Überlegen Sie, welche es sind und begründen Sie

(Tipp: Probieren Sie alle sechs Typen der Schachtelaufgaben mit Material selbst aus. Denken Sie daran, dass es hier um die Feststellung von Rechenfähigkeiten geht.).

Falls Sie nicht sicher sind, ob Ihre Überlegungen in die richtige Richtung führen, können Sie hier Hinweise zur Lösung der Aufgabe bekommen.

Eigenaktivität

Wir haben Erstklässlern unter anderem die Schachtelaufgabe 5+3=8 gestellt. Auf welche Art und Weise können Schulanfänger diese Aufgabe lösen?

Erstklässler lösen Schachtelaufgaben

In den folgenden Videos lösen Erstklässler die Schachtelaufgabe 5+3=8.

Eigenaktivität

Betrachten Sie die Videos und analysieren Sie, wie die Kinder zur Lösung gekommen sind. Berücksichtigen Sie dabei folgende Aspekte:

  • Zählt das Kind im Kopf, oder mit den Fingern?
  • Zählt das Kind beide Summanden ab, oder nur den zweiten Summanden zum ersten hinzu?
  • Hat das Kind die Lösung auswendig gewusst?
  • Nutzt das Kind Analogien (bereits bekannte Aufgaben)?
  • Wendet das Kind Rechenstrategien an?
  • Benutzt das Kind bereits mathematische "Fachsprache" (plus, minus, gleich)?

Vergleichen Sie die in den Videos aufgetretenen Strategien mit Ihren vorherigen Überlegungen, wie Erstklässler die Schachtelaufgabe 5+3=8 lösen können.

Erik
Kevin
Adrian
Klemens
Elias
Peter

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  4. Multiplikation und Division: Lernstände und Entwicklungen

Auf der Website des Projekts PIK AS finden Sie in PIKAS: Fortbildungsmodul: 'Lernstände wahrnehmen'  weitere Materialien zum Thema 'Standortbestimmungen', unter anderem für das erste Schuljahr.

Literatur