Veranschaulichungen sind selbst neuer Lernstoff
Schipper (1984) unterscheidet zwischen Darstellungen, die reale Situationen (Sachbilder) abbilden und solchen, die eher didaktisches Material sind (z.B. Zwanzigerfeld, Zahlenstrahl, ...). Letztere interpretieren Kinder vor allem dann "richtig", wenn die entsprechenden Darstellungen im Unterricht thematisiert, also erlernt wurden.
Eine Untersuchung, die Schipper bereits im Jahre 1981 mit 109 Schülern des 1. Schuljahres durchführte, zeigte, dass diese Art von Veranschaulichungen selbst einen neuen Lernstoff darstellen, der zwar erlernt werden kann, zuvor aber auch erlernt werden muss. Gerade für leistungsschwache Kinder bedeuten Veranschaulichungen oftmals einen zusätzlichen Unterrichtsstoff. Obwohl ihnen die Veranschaulichungen doch eigentlich helfen sollen, sind diese Kinder im Umgang mit ihnen überfordert - neue Verstehens- und Begründungsprobleme können dadurch ausgelöst werden.
Wichtig ist deshalb, als Lehrkraft abzuschätzen, ob bzw. welche Veranschaulichungen für alle Kinder hilfreich und nötig sind. Vor allem sollte sie aus der Vielzahl an Veranschaulichungen (nicht gleichzusetzen mit dem Wechsel der Darstellungsformen) diejenigen auswählen, welche für das jeweilige Schulbuch bzw. dem Unterricht zentral sind (in einem guten Schulbuch sollte das didaktische Material im Sinne des Spiralprinzips vom ersten bis ins vierte Schuljahr einsetzbar sein und entsprechend aufeinander aufbauen). Ansonsten kann die "Gefahr der Überanschaulichkeit" (Schipper & Hülshoff 1984, S. 54) bestehen.
Veranschaulichungen sind prinzipiell mehrdeutig
Auch Sachbilder sind nicht immer selbsterklärend und eindeutig. So findet man in vielen Schulbüchern solche Sachbilder, mit denen beabsichtigt wird, eine bestimmte Deutung des Bildes in Form eines Zahlensatzes bei den Kindern hervorzurufen. Jedoch sind diese oftmals mehrdeutig, sodass die Lehrererwartungen, die hinter dem Betrachten eines Sachbildes stecken sollten, von der spontanen Reaktion der Kinder geradezu abweichen müssen.
Krauthausen spricht hier auch von einer "Deutungsdifferenz" (Krauthausen 1998, S. 133). Während der "Sinn" eines solchen Bildes für die Lehrkraft augenfällig ist, fällt den Kindern jedoch oft viel mehr dazu ein. Sie beschränken sich nicht auf das "Wesentliche" (die Zahlen), sondern erzählen (an ihre Lebenswirklichkeit anknüpfend), welche Dinge ihnen an diesem Bild wichtig sind (vgl. Lorenz 1998, S. 143). Kinder verbleiben also oftmals mit ihren Interpretationen im Bildkontext oder lesen einfach nur nicht diesen einen bestimmten (gesuchten) Zahlensatz ab. Demnach bringen sie nicht die von der Lehrkraft erwartete arithmetische Interpretation.
Traditionell wird bspw. die Addition durch Sachbilder, die das Hinzufügen oder Zusammenfügen bestimmter Dinge beinhalten veranschaulicht, während die Subtraktion durch das Wegfliegen, leer sein oder abgetrennt dargestellt wird (in den Bildern bereits von links nach rechts angeordnet). Laut Steinbring wird so "das Zahlenbild [...] zu einer methodischen Ikone, deren korrekte Les- und Interpretationsweise im Unterricht geübt und verinnerlicht wird." (Steinbring 1994, S. 184). Es handelt sich also lediglich um eine "Verkleidung" arithmetischer Zusammenhänge.
Literatur
Krauthausen, G. (1998). Lernen - Lehren - Lehren lernen. Zur mathematik-didaktischen Lehrerbildung am Beispiel der Primarstufe. Leipzig: Klett, S.185 ff.
Lorenz, J. H. (1998). Anschauung und Veranschaulichungsmittel im Mathematikunterricht. Mentales visuelles Operieren und Rechenleistung. 2. unveränd. Aufl. Göttingen: Hogrefe.
Schipper, W. & Hülshoff, A. (1984). Wie anschaulich sind Veranschaulichungshilfen? In: Grundschule. H. 16 (4), S. 54-56.
Steinbring, H. (1994).Frosch, Känguruh und Zehnerübergang. In: H. Maier & J. Voigt (Hrsg.): Verstehen und Verständigung. Köln: Aulis, S. 182-217.