Stellt man Kindern die Aufgabe "Auf einem Schiff befinden sich 26 Schafe und 10 Ziegen. Wie alt ist der Kapitän?", neigen sie dazu, die angegebenen Zahlenwerte zu addieren und als Antwort "36 Jahre" anzugeben.

Zeigen die Befunde, dass die Kinder dumm sind und mit Beginn einer Mathematikstunde ihr Gehirn ausschalten? Nein, sicherlich nicht. Ein genauer Blick auf das, was die Kinder sich bei der Bearbeitung von Kapitänsaufgaben überlegen, scheint daher unverzichtbar.

"Soll man da etwas zählen?"

Illustration eines Schiffes, auf dem zahlreiche Schafe und Ziegen abgebildet sind.
(i.A. an Keller & Brandenberg 1999)

Die Drittklässlerin Clara bekommt im Interview das obige Bild mit den Worten "Auf einem Schiff sind Schafe und Ziegen. Wie alt ist der Kapitän?" vorgelegt. Es entsteht folgendes Gespräch:

Clara: (schaut auf das Bild, dann zum Interviewer) Hm? (schaut wieder auf das Bild und überlegt 15 Sekunden) Hm, das versteh ich nicht so.
Interviewer: Warum?
Clara: Irgendwie (...) soll man etwa das zählen? (zeigt auf das Bild) Wie viele das sind, oder?
Interviewer: Kann man das machen, um das Alter des Kapitäns rauszufinden?
Clara: (Schulterzucken) [...] (Schließlich zählt sie die Tiere ab.)
Interviewer: Und wenn da jetzt 70 Schafe und Ziegen wären?
Clara: 140.

Trotz der sichtlichen Verunsicherung von Clara zählt sie am Ende des Gesprächs die Tiere im Bild ab und gibt ein Alter des Kapitäns an.

Eigenaktivität

Wie erklären Sie sich, dass Clara, die anfangs an dem Sinn der Aufgabe zweifelt, letztlich doch ein Alter angibt?

Hintergrundwissen - Das Kapitänsaufgaben-Phänomen 

Zu Beginn der 1980er Jahre stellten französische Forscher Zweit- und Drittklässlern die folgende Aufgabe: "Auf einem Schiff befinden sich 26 Schafe und 10 Ziegen. Wie alt ist der Kapitän?". Von den insgesamt 97 teilnehmenden Kindern haben 76 die Antwort "36 Jahre" gegeben, da sie die im Text genannten Zahlenwerte einfach addiert haben.

Je nachdem, wie die Wissenschaftler die Aufgabenkontexte oder die Zahlenwerte solcher "Kapitänsaufgaben" variierten, waren die Kinder eher versucht zu subtrahieren oder zu dividieren. Die wenigsten Kinder allerdings waren der Meinung, dass es bei diesen Aufgaben nichts zu rechnen gäbe (vgl. Baruk 1989).

Keller und Brandenberg (1999) versuchten zu ergründen, ob es tatsächlich die Zahlenangaben sind, die die Kinder zum Rechnen verleiten. Sie legten ihnen daher keine Textaufgabe, sondern eine Zeichnung (vgl. obiges Bild) vor, aus der Zahlen nur indirekt aus dem Bild herausgelesen werden konnten. 69% der befragten Kinder suchten im Bild nach Zahlen und kombinierten diese miteinander.

Eine von Radatz (1983) durchgeführte Untersuchung in Deutschland brachte ähnliche Befunde - zumindest bei den Grundschülern. Denn Radatz hat zusätzlich Kindergartenkindern derartige Aufgaben vorgelegt und konnte feststellen, dass diese in einem sehr viel geringeren Maße dazu geneigt waren, bei Kapitänsaufgaben etwas rechnen zu wollen.

Die Befunde wurden vielfach so interpretiert, dass Kinder mit Beginn ihrer Schulzeit mehr und mehr verdummen! So scheinen Kinder Sachaufgaben als einen speziellen Aufgabentyp anzusehen, bei dem sie ihr Allgemeinwissen einfach ausblenden und mechanisch Rechenoperationen ausführen.

Doch so dumm sind sie nicht! So hat Stern (1992) feststellen können, dass bereits der anfängliche Hinweis, manche Aufgaben seien nicht lösbar, dazu führte, dass viele Kinder keinen Berechnungsversuch mehr vornahmen.

Man kann letztlich davon ausgehen, dass viele Kinder deshalb dazu neigen sämtliche Aufgaben zu berechnen (so irrelevant die angegebenen Daten auch sind), da sie im Laufe ihrer schulischen Sozialisation gelernt haben, dass im Mathematikunterricht jede Aufgabe eine bestimmte Lösung hat - egal wie komisch die Aufgabe auch klingen mag (vgl. Selter & Spiegel 1997, S. 35).

Sie verhalten sich also "erwartungskonform" und wissen durchaus, dass eine solche Kapitänsaufgabe eigentlich nicht lösbar ist. Aber irgendwas muss man ja rechnen.

 

Damit ein oben beschriebenes Verhalten aufgebrochen werden kann, bedarf es einen anderen Umgang mit Textaufgaben im Mathematikunterricht. Hier finden Sie dazu Informationen.

Typische Vorgehensweisen bei der "Lösung" von Kapitänsaufgaben

Eigenaktivität

Wir haben verschiedene Kinder vom ersten bis zum vierten Schuljahr mit Kapitänsaufgaben konfrontiert. Dabei wurden die Erstklässler immer einzeln interviewt und die Aufgaben wurden ihnen vorgelesen (ggf. auch mehrfach). Zweit-, Dritt- und Viertklässler wurden zu zweit interviewt. Die Aufgaben wurden ihnen auf einem Zettel gedruckt vorgelegt.

Gaben die Kinder eine Zahl als Antwort, so wurden sie danach gefragt, wie sie darauf gekommen sind. Gezielte Impulsfragen (siehe Interviewleitfaden) dienten zur Erzeugung eines kognitiven Konflikts: Durch diese Fragen sollten die Kinder auf die "Unsinnigkeit" ihrer Antworten aufmerksam gemacht werden, sodass sie ihre Rechnung argumentativ rechtfertigen mussten.

Dass Kinder durchaus nicht "dumm" sind und sich lediglich so verhalten, wie es von ihnen vielerorts im Mathematikunterricht erwartet wird, kann man häufig daran erkennen, dass sie...

  • irritiert sind, wenn sie eine derartige Aufgabe vorgelegt bekommen (siehe Clara im obigen Beispiel)
  • durchaus logische, teilweise unterhaltsame Erklärungen für ihre Rechnungen liefern
  • zwischen der realen und einer mathematischen Welt unterscheiden und/oder
  • ausdrücken, dass unlösbare (oder leicht lösbare) Aufgaben im Mathematikunterricht nicht erlaubt sind.

Analysieren Sie die vier Videos im Hinblick auf das Auftreten dieser vier Aspekte.

Chantal und Jessica 
Vivien
Jennifer und Alina Teil 1
Jennifer und Alina Teil 2

Hier finden Sie einige Tipps für die Analyse und hier noch weitere Kinderaussagen zu einer Kapitänsaufgabe, bei der die Lösung der Fragestellung bereits im Text zu finden ist.

Weiterführende Aufgabe

Eigenaktivität

Besonders interessant ist das Video von Larissa und Fabian, da Larissa sofort bemerkt, dass diese "Aufgaben" nicht lösbar sind, während Fabian etwas berechnet.

Gehen Sie bei der Betrachtung des Videos am besten wie folgt vor:

  • Halten Sie das Video nach der ersten Aufgabe an und überlegen Sie, wie das Interview vermutlich weiter verläuft. Wird Larissa oder eher Fabian seine Meinung bzgl. der Lösbarkeit der Aufgabe ändern?
  • Halten Sie das Video nach der zweiten Aufgabe wieder an. Was vermuten Sie, wie es nun weitergehen wird?
  • Fabian gibt am Ende eine schöne Erklärung dafür, warum er sich bei den einzelnen Aufgaben so verhalten hat. Deuten Sie diese Erklärung mit dem, was Sie aus den obigen Hintergrundinformationen und Videoanalysen bereits haben lernen können.
Larissa und Fabian

Verwandte Themen 

Zeitungsmathematik

Wenn Sie weitere Informationen darüber haben wollen, welcher Umgang mit Textaufgaben sich im Mathematikunterricht etablieren sollte, damit Kinder nicht dazu geneigt sind Kapitänsaufgaben zu lösen, dann lesen Sie hier nach.

 

Auch auf der Website unseres Partnerprojekts PIK AS finden Sie im PIKAS: Fortbildungsmodul: 'Gute Aufgaben' weitere Informationen sowie Fortbildungs- und Unterrichtsmaterialien zur Texterschließung und zur Bearbeitung komplexer Sachaufgaben.

Material

Interviewleitfaden Kapitänsaufgaben

Literatur